Hermann Scheiff - ein Künstler aus Hauset

Eine Hommage zum 70. Geburtstag - von seinem Lehrer und Freund Leo Wintgens

Wenn das Schicksal anders entschieden hätte, würde Hermann Scheiff im Jahre 2012 siebzig Jahre alt werden. Die vorliegende Würdigung erscheint folglich gerade rechtzeitig zu seinem Jubiläum. Doch Scheiffs Wirken haben wir bereits in unserem neuesten Buch über „Neutral-Moresnet“, das im November 2010 erschienen ist, durch mehrere  ganz  verschiedenartige  Werke  gebührend  unterstrichen.  Schon  das  Umschlagbild  „De  Kul“  (80x120  cm,  nach  A.  Maugendre,  ca.  1850,)  sowie,  einleitend,  ein  weiteres  abgedrucktes  Ölgemälde  „Die  Könige  der  Belgier“ (70x80 cm), zeugen von der Ausdruckskraft, die H. Scheiff in seine Werke zu legen weiß. Als eines der Hauptelemente wirkt dabei ein eigenartig von innen her belebendes Licht, das irgendwie gefiltert und dennoch wie unversiegbar aus den Bildern dringt. Möglicherweise fängt der Maler hier einen Teil der Sonnenstrahlen ein, die durch das Blätterdach des Grenzwaldes am mittelalterlichen Landgraben in sein Kinderzimmer drangen...

Mathias Scheiff mit seiner Familie während seines vermutlich letzten Fronturlaubs im Mai 1943.Von links: vorne Josef, Maria Kleebank mit Hermann, Mathias Scheiff mit Aloys, dahinter  Edmund  und  Willi. Leihgabe: Alo Scheiff   

 

Hermann Scheiff wurde am 28. Oktober 1942 im letzten Wohngebäude an der belgisch-deutschen Grenze é-jen Flöösch als jüngster der fünf Söhne des Ehepaars Mathias Arnold Scheiff und Maria Kleebank in Hauset geboren. Nur wenige Meter von seinem Geburtshaus entfernt steht, bei einer Höhenlage von 299 m, der Grenzstein 958 zwischen Belgien und Deutschland mit den Koordinaten N 50°43‘28,79“ – E 6°04’58,21“. Der Fußweg von Flög zur dort noch belgischen Landstraße am Köpfchen bildet bis zu Scheiffs Wohnhaus die Landesgrenze, sein Ostgiebel verlängert sie und daran schließt sich der Landgraben an. Im Garten seitlich des Giebels steht ein Kreuz – wie der gesamte Garten bereits auf deutschem Boden.

 

Hier in Hauset besuchte der Junge die Volksschule. Seine Mutter, eine Kriegswitwe, meinte, ihr Benjamin solle weiterstudieren, was das Hermännchen dann auch mit gutem Mut und Eifer tat. Vermutlich peilte er bereits damals den Volksschullehrerberuf an, denn wie so viele Hauseter war auch er durch die fachkundigen Hände des Lehrers  Jules  Cravatte  aus  Sippenaeken  gegangen,  der  hier  mit  Unterbrechungen  von  1920  bis  1955  –  trotz  seiner Strenge – fruchtbar (nicht furchtbar!) wirkte. Die Kalligraphie, die Cravatte ihm vermittelt hatte, wirkte bei Scheiff bis zuletzt nach. Hermann schrieb nicht, er zeichnete seine Buchstaben, malte seine Mitteilungen...Doch nicht nur Heim und Schule, auch das Kriegsgeschehen hat das Kind, den Heranwachsenden mit Sicherheit geprägt. Die „Siegfriedlinie“, die sich u.a. am nahen Rotsiefweg zum „Westwall“ erweitert, durchquert auch nach dem Krieg noch die Straßen, Wiesen und Wälder in der unmittelbaren Umgebung (– gelegentlich auch noch die Gemüter!). Im Garten gegenüber dem ehemaligen Zollhaus am Köpfchen ragen ihre Zähne noch heute über die Gemüsepflanzen hinaus. Neben der Wiese am Fußweg zur Flög  hängt  jetzt  ein  Kinderspielnetz  über  der  Höckerlinie gespannt. Hinter diesen Betonzacken hat sich in der Nachkriegszeit der kleine Junge beim Versteckspiel verborgen, auf ihnen  ist  er  herum  balanciert.  Und  –  nicht  zu  vergessen  –  der  Krieg  hatte  dem  Kind  den  Vater  genommen.  Hermann  hatte  keinerlei  Erinnerung  an  ihn:  Er  blieb,  nach  einer  Auskunft  des  Sohnes  Aloys,  seit  Juli  1944  in  einem Gefangenenlager in Krakau (Polen) verschollen. Ende 1945 starb auch sein Bruder Stephan Josef als spätes Opfer des Krieges.

 

Ich lernte Hermann Scheiff 1960 als junger Sprachenlehrer in Gemmenich kennen. Er war einer meiner Schüler im Niederländisch- und Englischkurs. Zuvor hatte er vermutlich einige Jahre an der Staatlichen Mittelschule in Kelmis absolviert. Angesichts der schwierigen Verkehrsverbindungen nach Hauset gehörte auch er nun zu den Internatsschülern. Viele meiner Oberklässler waren fast so alt wie ich, einige ‚vocations tardives‘ sogar um mehrere Jahre älter. Hermann war damals Schüler der classe de Poésie – der vorletzten Humaniora-Klasse – im Collège Notre-Dame, das sich zu der Zeit noch hochtrabend-fromm „Séminaire apostolique Notre-Dame de la Grâce“ nannte. Ziel des wallonischen Ordens der „Pères Oblats de Marie-Immaculée“ (‘pères aux plats’ lästerten kritische Schülerzungen zuweilen) war vor allem, die platdütsche Gegend im belgisch-niederländisch-deutschen Dreiländereck gründlich zu französieren, d.h. zu einer strikten Einsprachigkeit zu konvertieren. So ließ mein Vorgänger, der Kandidat Père De Deken, während des Niederländischunterrichts sogar zeitweilig französische Theaterstücke einstudieren. Den  unbändigen  kolonialistischen  Missionierungstrieb  mussten  nun  –  nach  den  armen  Kongolesen  –  die  seit jeher weltoffenen Grenzländler erdulden. Im vormaligen Schwestern-Institut Maria-Hilf – das hier seit der Bismarckzeit ganz im europäischen Geist jungen Mädchen aus Wallonien das Deutsche, anderen aus dem Rheinland das Französische nahebrachte – wollten diese Zugezogenen in der Nachkriegszeit von einer erneuten Vermittlerrolle gar nichts wissen. Somit kamen hierhin ins Internat nicht nur Spätberufene und eventuelle Priesteranwärter, sondern auch junge Menschen aus der Gegend selbst und aus der Eifel, um – wie letztere sagten  –  „d‘  Schprooch  tse  liere“.  Die  Sprache  war  einzig  und  allein  das  Französische  –  Deutsch,  damals  immer noch verpönt als ‚Sprache des Feindes‘, wurde nämlich im „Séminaire apostolique“ zu Beginn nicht einmal  als  Zweitsprache  angeboten.


 

 

Auch  der  angestammte  karolingisch-fränkische  Dialekt  wurde  von  den  Zugezogenen in den gleichen Sack gesteckt. Somit verfolgte, und erreichte, die Schule ein Ziel, das eigentlich in kein Schulprogramm gehört: den Horizont der Menschen zu verengen.(Die hier im 21. Jh. eingeführte ‘immersion’ dient nur noch als Pflaster auf der Wunde.)Erst nachdem die Eltern der zunehmend rekrutierten Externats-Schüler aus Kelmis und Gemmenich dies unter Androhung  der  Wegnahme  ihrer  Söhne  durchgesetzt  hatten  –  das  geschah  1961-1962,  als  der  Schreiber  dieser  Zeilen  seinen  einjährigen  Militärdienst  ableistete  –  wurde  den  Schülern  bei  ihrer  Einschreibung  die  freie Wahl der ersten Fremdsprache zugestanden. Dennoch wurden aus der Region stammende Lehrer, und zuweilen sogar Schüler, in ihrer eigenen Gegend von den fremden Patres oft noch als störende Auswärtige angesehen. 

Schulklasse von Hermann Scheiff 1954: Von links: Heinz Hamel, Wolfgang Kistemann, Hermann Scheiff, Karli Aussems, Dieter Grass-mann, Hubert Falkenstein, Edo Kistemann, Siegfried Pitz. Hauptlehrer ist Jules Cravatte.

 

So spricht alles dafür, dass der eigentliche Grund der hiernach geschilderten Maßnahme wohl in Hermanns regionaler Verwurzelung lag. Zudem war er keiner von denen, die – um gegebenenfalls eine finanzielle Ermäßigung zu erwirken – den Oblaten vorgaukelten, in den geistlichen Stand treten zu wollen. Von  dem  erzwungenen  sprachlichen  Zugeständnis  seitens  der  Schulleitung  konnte  der  hagere,  schlaksige  Hauseter Abiturient mit dem leicht krausen dunkelblonden Haarschopf jedenfalls nicht mehr profitieren. Doch nun zur Sache: Hermann hatte eines Abends ganz einfach die Freiheit gesucht, war allein aus seinem trau-ten Kämmerlein geflüchtet und hatte in einem der Kelmiser Bier- oder Tanzlokale harmlosen Zeitvertreib und etwas Amüsement gefunden. In einigen Wochen würden die Prüfungen der Rhétorique – der Abiturklasse – starten, und davor sollte man doch noch mal so richtig die frische Volksluft genießen, meinte Hermann Jahre später vertraulich schmunzelnd zum Freund gewandt. Als der leicht schwerhörige Junge dann zu vorgerückter Stunde – so berichteten später die Patres – in sein Nest zurück wollte, habe ihn Père Loiseau (so hieß der Missionspater mit dem vogelartigen Konterfei und dem Sperberblick) unversehens gefischt und unter grimmigen Vorhaltungen vorerst einmal in Quarantäne ge-setzt. Der Hohe Rat der Rhétorique-Klasse wurde einberufen und entschied kurzerhand, dass Scheiff Herman als  schulschädigender  Fremdkörper  zu  betrachten  sei  und  deshalb  unverzüglich  von  der  Schule  verwiesen  werden müsse. Dass dem jungen Mann dadurch der Zugang zum langjährig verdienten Abitur und damit zu einer höheren Berufslaufbahn verlustig gehen würde, schien keinen der Patres zu stören. (Einige Jahre später konnte der Schreiber dieser Zeilen nur unter Einsatz aller Verhandlungskünste verhindern, dass ein Gemmenicher Abituranwärter gleichermaßen rücksichtslos abgesägt wurde, weil sein Mädchen von ihm schwanger geworden war. Erst das soziale Argument « Ainsi vous lui enlevez la possibilité de nourrir sa famille ! » überzeugte letztendlich Loiseau und Cie.)

 

Aber der fast zwanzigjährige Hermann Scheiff ließ sich nicht ohne weiteres an die Wand fahren. Zielstrebig verteidigte  er  sich,  dann  gehe  er  vor  die  neutrale  Prüfungskommission,  die  so  genannte  Jury  central.  Die  Patres überlegten sich angesichts der massiven Gegenwehr ihre übertriebene Maßnahme noch mal, und so erhielt  Hermann  Scheiff  schließlich  am  1.  Juli  1962  doch  noch  sein  Certificat d’études moyennes. 

 

Nun  ließ  Hermann sich kurzerhand in die deutschsprachige Sektion des Lehrerseminars, der Ecole Normale primaire de l’Etat, in Verviers einschreiben und bestand dort ohne Verzug den damals einjährigen Lehrgang. (Akuter Lehrermangel hatte das belgische Unterrichtsministerium zeitweilig zu dieser Kurzformel veranlasst.) Von 1963 bis 1965 unterrichtete Hermann Scheiff als Volksschullehrer in seinem Heimatdorf Hauset, kehrte also gewissermaßen an seinen Ursprung zurück. In der Folge wurde er zeitweilig mit der Leitung der Staat-lichen Volksschule in Raeren a-jene Pléi betraut.   Später  war  er  erst  Lehrer,  dann  Schulleiter  der  Volksschulabteilung  des  werdenden  Athenäums  in  Kelmis.  In  der  Folgezeit  sollte  diese  Bildungsstätte  einzig  und  allein Scheiffs Initiative und Beharrlichkeit den kulturell hochstehenden  Namen  César-Franck-Athenäum  verdanken. Inzwischen  war  der  junge  Mann  längst  mit  Elisabeth  Halmes  aus  der  Bahnhofstraße  in  Hergenrath  verheiratet und hatte dort mit ihr eine Tochter und einen Sohn gezeugt. Sie wohnten unweit der Hammerbrücke, dem 1843 beendeten Göhlviadukt, der im 19. Jahrhundert so viele Stadtbewohner ins Hergenrather Oberdorf zog, dass dort noch heute ein Weg vom Aachener Grenzwald  her  zum  Hotel  Waldburg  „Promenade“  genannt  wird. Doch etwas Unauslöschliches verband Hermann Scheiff noch immer mit der Sekundarschule in Gemmenich, die ihn wegen einer Lappalie so mir nichts dir nichts hatte abnabeln wollen. Ein  Lehrer  hatte  ihn  bleibend  geformt,  einer  der  dort  selbst  lange  Jahre  als  Außenseiter  im  Stillen  wirken  musste: Frère Maurice Boniver war ein Ordensmitglied zweiten Ranges. Er war nicht nur kein Pater – musste folglich immer einen solchen fragen, wenn er sich eine Tabakspfeife zu stopfen wünschte! –; er war auch, trotz seines französischen  Vornamens,  kein  Wallone,  denn  er  stammte  aus  dem  limburgischen  Kempenland.  Aber  aus  dieser rauen Region hatte er etwas mitgebracht, was ihm auch jahrzehntelange Fronarbeit in der Küche oder beim Anstreichen von Klassenräumen und endlosen Gängen niemand hatte nehmen können. Bruder Boniver malte:  Blumen,  Stillleben,  Häuser,  Landschaften,  insbesondere  seine  Kempen,  immer  wieder  Kempenlandschaften... Und seine Werke gaben die Materie genauso naturgetreu wieder wie die Gemälde der so genannten „Vlaamse Primitieven“. (Der Autor dieser Zeilen erlaubte sich mit Broeder Boniver immer Niederländisch zu sprechen, was naturgemäß bei den meisten der übrigen Ordensleute starkes Befremden hervorrief.)

 

 

 

Diese Art zu malen hatte Hermann Scheiff – wie vereinzelte andere Schüler – beeindruckt, ja tief geprägt. Auch Hermann zeichnete nun vorrangig die Objekte, die Tiere, die Menschen, so wahrheitsgetreu wie eben möglich. Was Bruder Boniver ihm gezeigt, ihn gelehrt hatte, ließ den jungen talentierten Maler nicht mehr los. Auch er wandte die akribische Zeichentechnik, die minutiöse Farbenmischung gekonnt an, mit Wasserfarbe oder Gouache, in Ölfarbe. Mit dem Bleistift, seltener auch mit Kohle, finden sich wertvolle Zeichnungen im Nachlass. Zeitweilig brannte er seine Zeichnungen in Holztafeln ein, was ihn dann notwendigerweise zur Holzschnitzarbeit führte. So reifte, durch unermüdliches Suchen und Schaffen, nach und nach eine Veranlagung heran, die bereits seit der Mitte der 60er Jahre auch Hermanns älteren Bruder, den talentierten Schreiner Willi, zu künstlerischer Intarsienarbeit führte. Einer  Initiative  des  Verfassers  zufolge  wurde  am  13.  Dezember  1966  in  seiner  Heimatortschaft  Hergenrath  „Im  Winkel“  zur  Förderung  örtlicher  Forschung  und  Kulturtätigkeit  die  Vereinigung  für  Kultur,  Heimatkunde  und  Geschichte  im  Göhltal  ins  Leben  gerufen.  Ihre  vielfältigen  Aktivitäten  führten,  nach  einer  mehrjährigen  Unterbrechung, notwendigerweise auch die Lebensfäden des Lehrers und des ehemaligen Schülers wieder zusammen.  Werdegang  und  Weltbild  der  beiden  Kulturschaffenden  aus  der  ostbelgischen  Nord-Ost-Spitze  konvergierten weitgehend: Beide wollten, endlich, den überaus ländlichen Kühlraum sozusagen aus dem Nachkriegs-Dornröschenschlaf erwecken. Auch die misstrauische Haltung gewisser überpatriotischer Kreise konnte ihren rein schöpferischen Elan nicht bremsen. Und so wandelte sich alsbald das Lehrer-Schüler-Verhältnis in eine überaus enge Freundschaft, die bis zum allzu frühen Abschied des Jüngeren ununterbrochen andauerte. César Franck, Kohle-und Kreidegemälde, 1990, 60x48 cm.Die  gemeinsamen  kulturellen  Interessen,  die  sich  ergänzenden  Fähigkeiten  erga-ben  über  lange  Strecken  hinweg  ein  Tandem wirken,  das  der  gesamten  Gegend zu Gute kam. Die gemeinschaftliche Kreativität  wurde  auch  im  zweiten  Band  des Romans Wege  aus  Sümpfen  –  Roman  einer    Grenzlandschaft    (HELIOS-Verlag, Aachen, 2006, u.a. S. 547 ff.) evoziert. Hermann hatte sich 1967 in die Zeichenakademie  ABC  in  Paris  einschreiben  lassen  (Klasse  von  Roland  Mascart).  Jahrelang  betrieb er dieses Fernstudium intensiv, mal-te Menschen, Bäume, Blumen, Landschaf-ten... Selbst wenn er Kopien bestehender Fotos oder Zeichnungen anfertigte, verlieh er diesen durch eine besondere Einfühlung eine ganz persönliche Note, eine besondere Ambiente, z.B. durch spezifisches Licht, u.a. bei der Hammerbrücke, den Häuptern der belgischen Dynastie, der Kelmiser Kul frei nach A. Maugendre...


In der Periode nach 1970 findet Hermann Scheiff seinen eigenen Stil, der aber im Grunde auf früheren, von Bruder Boniver angeregten Gouache-Zeichnungen fußt. Ganz zu Beginn trägt Scheiff die Farbe fast spachtel-artig dick mit dem Pinsel auf. Doch schon bald verzichtet er auf solcherart Vortäuschung der dritten Dimension. Für den Ausdruck der Tiefe, falls er diesen bezweckt, verwendet er lieber perspektivische Elemente oder andere Techniken. Aber auch japanisch-orientalische Stilelemente nimmt sein Werk auf.  In   vorerst   relativ   buntfarbigen   Aquarellen (zu Beginn meist im A 3-Format  oder  noch  großflächiger)   versinnbildlichen   unzählige   Kreise,  ähnlich  wie  Seifenblasen  oder  Sonnenelemente,  die  Zellen  des  menschlichen  Körpers  (Lebensatome),  unterbrochene  Pfeile weisen auf die Unbeständigkeit der  menschlichen  Anklage  hin;  Felsen und Felsgrotten bieten oft nur scheinbaren Schutz; dahinein ragen  Stalagtiten  und  Stalagmiten  als  Symbole  endlosen  Werdens.  Aus  dem  Wasser  wirkt  unaufhaltsam  tiefgründiges  Schick- sal.

 

Auf diese Weise versucht Scheiff, nach eigener Aussage, Unsagbares auszudrücken, Nicht-Figuratives den-noch konkret werden zu lassen. Unermüdlich schafft er an neuen Themen, testet er andere Perspektiven, immer wieder versucht er sich in bisher unbekannten Techniken... Mit diesem rastlos erstellten Potential veranstaltet Scheiff schon in den Jahren 1970-1973 erfolgreiche Gemäldeausstellungen in Brüssel (Centre Rogier), in Chapelle-lez-Herlaimont (bei Charleroi), in Kelmis. In den darauffolgenden Jahren stellt er auch in Heusy, Eupen (Grenz-Echo, 1974) und Aachen (Belgische Kulturwoche, 1975) aus. Später hat er zunehmend auch an Sammelausstellungen ostbelgischer Künstler im Auftrag der DG teilgenommen, u.a. in Eupen, Deurne und Lüttich.Am 16. März 1973 erhält Hermann Scheiff verdientermaßen das Certificat de fin d’études der „Ecole ABC de Paris“ in den Fächern „Dessin, peinture, portrait“ und schließt sich als Mitglied der „Académie européenne des Arts“ (AEA) an.

 

 Im Mai 1973 erscheint als erster Band der Sonderreihe der Vereinigung "Im Göhltal" der Gedicht- und Grafikband aus der presse, der – wie die Presseleute des Grenz-Echo und der Aachener Nachrichten einhellig schreiben – Aufsehen erregt, weil er „alle konventionellen Wege sprengt“ (Grenz-Echo) und „einen literarischen Vorstoß in eine neue Richtung bildet“ (Aachener Nachrichten). Immer bleibt die Aussage der Zweck der Formgebung, so stellt der berufene Künstler Adolf Christmann in der Einleitung fest. Diese „Gleichgestimmtheit“ (A. Christmann) durchzieht den Band vom illustrierten Motto „ausgepresst mit zucker schmeckt selbst die zitrone – schalen wirft man weg“ bis hin zur endgültigen Aussage in Kreuzform „du bist nur ein mal da“ am Buchende. Einzelne Gemälde des Malers fügen sich in diesem Band wie von selbst zu Gedichten in freier Form, wie „Hin-ter Gittern“ zu freispruch (S. 18-19), „Mutter und Kind“ zu unehelich (S. 28-29), „Auf dem Meer“ zu die Frage(S. 34-35), oder „Du bist nun einmal da...“ benannt mit einem Kernvers des Schlussgedichts Warum? Wozu?(S. 74-75). Weitere figurative Werke sind sogar von diesen oder anderen Texten des Autors angeregt worden. In Scheiffs Werkekatalog  tauchen  gelegentlich  eindeutige  Hinweise  der  gegenseitigen  Inspiration  auf,  so  bei  „Lichttrunken“:  „nach dem Gedicht fledermäuse von Leo Wintgens“ (siehe unten abgebildet, aus der presse, S. 54-55). Scheiffs Titel „Lichttrunken“ ist übrigens eines der Kernworte des Gedichts. Diese Thematik bearbeitet Scheiff fast über ein  Jahrzehnt  hinweg,  immer  leicht  abgewandelt,  in  verschiedenen  Materialien  und  Techniken  bis  hin  zum  oben einleitend abgebildeten Raerener Fries (1982). Bei der Erstellung der Collagen und der Wortmontagen war meist eine intensive Beratung in mehreren Etappen erforderlich, die im Dienst der Aussage oft eine enge Vereinbarkeit der Ideen und Empfindungen erforderte so-wie eine weitgehende Kompromissbereitschaft bezüglich der einzusetzenden künstlerischen Mittel. Solcherart Gemeinschaftsarbeit setzt insbesondere eine kreative Seelenverwandtschaft voraus... Was nicht ausschließt, dass bei den Arbeitssitzungen oft längere Zeit über das Verhältnis der Grafik zum Text oder über die Stelle oder Type dieses Wort, jener Silbe oder gar Letter beraten wurde. Dies eingedenk der Stilvorstellungen der sogenannten „konkreten Poesie“, die – wie es im Vorwort des Bandes heißt – „verwandt ist mit Bauen, Malerei, Plastik, Produktgestaltung, Industrieorganisation“ (S. 9). Diese Stilrichtung stipuliert klar, „dass in einem literarischen text die typografische form mit zum inhalt gehört“ (Aussage des flämischen Autors Paul de Wispelare in paul-tegenpaul, 1969-1970).

 

In seinem Vorwort „Zwischen den Zeilen...“ (S. 9 ff.) kommt der international renommierte Eupener Kunstmaler Adolf Christmann unter anderem zu folgendem Schluss: “Hermann Scheiff offenbart sich in diesem Album als vielseitiger Künstler, als Zeichner, Grafiker und Maler. Dem aufmerksamen Betrachter wird nicht entgehen, dass seine Werke – in Bezug auf den Inhalt der Gedichte – das Niveau einfacher Illustrationen übersteigen und  einen  großen  Reichtum  an  Ideen  aufweisen.  In  ihrer  Umwandlung  in  Symbole  und  deren  Sichtbarma-chung in Form und Farbe liegt die Stärke Hermann Scheiffs.“ Die Vorstellung des von der Offset-Druckerei Doepgen-Beretz, Sankt Vith, sachgerecht gestalteten Gedicht- und Grafikbandes fand am 11. Mai 1973 im Rahmen der Eröffnung einer Gemäldeausstellung von Hermann Scheiff in der Kelmiser VM-Parkvilla statt. Zahlreiche Kulturträger und Beamte aus Ostbelgien wohnten der Feier bei. Die Anwesenheit des Schriftstellers Wolfgang Weyrauch – in der Nachkriegszeit einer der Hauptakteure des literarischen Kahlschlags in Deutschland – verlieh der Veranstaltung ein ganz besonderes Gepräge. Der Schriftsteller war, einer Einladung der Schulleitung folgend, am nächsten Tag für ein Rundtischgespräch an der Staatlichen Pädagogischen Hochschule in Eupen zu Gast. Gemeinsam mit Schülern des Autors an der Schauspielabteilung der Musikakademie Eupen hielt er dort abends eine öffentliche Lesung aus seinem Werk1.

 

Wie  intensiv  und  seelenverwandt  die  Zusammenarbeit  der  beiden  Kulturträger  war,  bezeugt  auch  das  Pro-gramm zur Aufführung des sozialkritischen Theaterstücks „Andorra“ von Max Frisch bei der 25-Jahr-Feier des Königlichen Athenäums in Eupen (damals noch ARE genannt) im Schuljahr 1973-74, einer Initiative unter der Regie des Autors.  

 

Noch bevor der Vorhang sich öffnete, ertönte aus den Lautsprechern, mittels Echolette verfremdet, das Ein-Satz-Gedicht WER WIRFT DEN ERSTEN STEIN... Den Rückendeckel des Programmumschlags bildete eine zuletzt mit dem sich zersetzenden Satz verwobene Zeichnung – ein Pflastersteinhaufen – von H. Scheiff (die Hauptperson Andri wird am Ende gesteinigt!). Im Programminnern wird die Darstellung des verketteten Sklaven zur Devise „Waiting for the day of the man as Man“ von Martin Luther King (aus der presse, S. 22) thema-tisch wieder verwendet. Die Zeichnung stützt hier das Motiv-Lied „Wounded knee“, das der in die Enge getriebene Junge immer wieder der Jukebox entlockt, bis man ihn schließlich zur Steinigung abholt...Neben der künstlerischen Kreativität betätigte sich Hermann Scheiff auch als technischer Zeichner und Grafiker. So erstellte er gekonnt topografische Karten und Stadtpläne, versuchte sich mit Erfolg im Linolschnitt, zeit-weilig sogar in der Holzschnitzkunst. Unter anderem zeichnete er in all den Jahren seit 1970 auch bereitwillig die sprachhistorischen Karten zu einer Reihe von fachlichen Werken des Autors, u.a. für die drei sprachwissenschaftlichen Bände OSTBELGISCHE STUDIEN (1982,  1986,  1988). 

 

 

 

In  unserem  rezenten  Kelmis-Buch wird S. 12 eine seiner Karten zu Band III,  in  der  abgewandelten  Form  aus  der  Biblio-Kassette  3  Sprache  und  Gesellschaft  (1990 ediert durch die DG), neu verwendet. Unser  Beitrag  „Fossey, Prestert und Hammer“ wird  durch  eine  von  Scheiffs  Originalzeichnungen  zu  den  Weistümern  des  Herzogtums  Limburg (Ostbelgische Studien III) dokumentiert. Die Edition   des   ersten  Bandes,   der   Lütticher   Dissertation   über   die   Sprachgeschichte   des   Herzogtums  Limburg  (1982),  wurde  insbesondere durch Gert Noël, einen weiteren Hauseter Einwohner, ermöglicht. Das Wirken dieses Kulturförderers  wird  im  vorliegenden  Heimatbuch  gleichfalls eingehender gewürdigt. Auch zu der 1976 ebenfalls mit G. Noëls Unterstützung  gegründeten  Reihe  OBELIT  -  ostbelgische  literaturhefte  (1976-1984,  Nr.  1-8)  lieferte  Hermann Scheiff immer wieder Zeichnungen als Illustrationen. Einer Anregung von Touring  Tourisme,  Kelmis,  folgend initiierte Hermann Scheiff zu Beginn der 90er  Jahre  die  sogenannte  Burgenroute.  Zwischen Voeren und Raeren werden dabei 24 Burgen, Schlösser und Klöster den Besuchern unserer Gegend vorgestellt. Die Beschilderung ist ortsweise noch heute vorhanden. An dem dreisprachig edierten Buch Burgen und Schlösser im Göhltal (1991, 57 A4-Seiten, reich illustriert) wirkten außerdem Nikolaus Schmetz und Leo Wet-zels (beide aus Kelmis) mit. Der Autor der vorliegenden Biografie steuerte die niederländische Textfassung bei. Hermann Scheiff selbst erstellte dazu mehrere Lage- und Übersichtskarten. Das Buch wurde vom Hergenrather Blumenkorso-Komitee herausgegeben, dessen aktives Mitglied H. Scheiff zeitweilig war.Eine weitere Stilentwicklung führt den Maler Scheiff dahin, sich in seinen Gemälden auf das Essentielle der Aussage zu konzentrieren: die Farben werden blasser, werden manchmal ganz durch schwarze oder graue Tusche ersetzt, die Luftbläschen – Symbole der allgegenwärtigen Lebensenergie – entfallen schließlich gänzlich. Auch seine Bleistiftzeichnungen wirken nun sehr ausdrucksstark. Zeitweilig erhält seine Kunst sogar sur-realistische Züge, verweist auf große Künstler wie Magritte, Picasso, Chagall... Auch ein halbiertes Autoporträt zeugt von diesen Einflüssen.Die zeitweilig in ihrer Gattung international bekannte Rockband Rising Nation, heute Punished Earth (Leader, F. Paulus, Gemmenich), verwendete bereits 1992 das rechts daneben stehende Gemälde Scheiffs als Cover-Bild.

Nach einer Andeutung des Freundes wurde auch die nachstehend abgebildete menschliche Silhouette von einem zeitkritischen Gedicht des Autors inspiriert, das bereits im Jahre 1968 in Nummer 3 der Zeitschrift „Im Göhltal“ (S. 46) erschien. Jedenfalls hat der Maler eine adäquate Ausdrucksform gefunden für das, was dem Einzelmenschen im 2. Dezennium des 21. Jahrhunderts – dem “Internet-Zeitalter” – auch von innen her zur existenziellen Bedrohung wird: Der Mensch ist nur noch eine äußere Schale, den Kopf gefüllt mit Komputerinhalt. Was kann sonst aus dem denkenden, fühlenden Individuum werden, in einer Zeit, wo Habgier und Machthunger die dem Menschen anvertraute Schöpfung im Kern selbst in größte Gefahren stürzen, Zugvögel im kerosinverseuchten Himmel nicht mehr wissen, wohin sie fliegen sollen, Wale in plastikdurchsetzten, zerbohrten Ozeanen nicht mehr orten können, wohin sie schwimmen...? Auch diese zeitkritische Thematik arbeitet Scheiff mittels verschiedenster Techniken aus.

Viele  Werke  Scheiffs  behandeln  bedrückende   Themen;   dennoch verwahrt  sich  der  Künstler  ausdrücklich  gegen  eine  pessimistische  Lebenseinstellung.  Er  sieht  sich  vielmehr  als  teilnehmender  Beobachter,  als  Warner.  Andere  Kritiker  könnten  ihn  als  Eklektiker  abtun,  der  sich  in  den  verschiedensten Gebieten mit unterschied-lichsten  Materialien  abgibt.  Aber  liegt  nicht  gerade  in  diesem  unermüdlichen  Suchen  und  Erproben  Inhalt  und  Zweck  seiner  Kunst?  (Scheiff  sammelte  schließlich  so-gar  von  Blättern  hiesiger  Eichen  Blasen der Gallwespe, aus denen er seine Tusche schöpfte...).„Der  Weg  ist  das  Ziel“  darf  hier  wohl  als  philosophische  Erkenntnis eingeflochten werden, da Hermann  manchmal  ja  auch  selbst  derartige Zitate in seine Gemälde einfließen läßt. Wie  dem  auch  sei,  gleich  welche  Stilart   Scheiff   denn   dabei   auch   spielen   lässt:   Immer   steht   der   Mensch  zentral,  und  die  Formgebung  entspricht  dem  Inhalt,  steht  voll im Dienst der Zielsetzung.

 

Nach einer Andeutung des Freundes wurde auch die nachstehend abgebildete menschliche Silhouette von einem zeitkritischen Gedicht des Autors inspiriert, das bereits im Jahre 1968 in Nummer 3 der Zeitschrift „Im Göhltal“ (S. 46) erschien. Jedenfalls hat der Maler eine adäquate Ausdrucksform gefunden für das, was dem Einzelmenschen im 2. Dezennium des 21. Jahrhunderts – dem “Internet-Zeitalter” – auch von innen her zur existenziellen Bedrohung wird: Der Mensch ist nur noch eine äußere Schale, den Kopf gefüllt mit Komputerinhalt. Was kann sonst aus dem denkenden, fühlenden Individuum werden, in einer Zeit, wo Habgier und Machthunger die dem Menschen anvertraute Schöpfung im Kern selbst in größte Gefahren stürzen, Zugvögel im kerosinverseuchten Himmel nicht mehr wissen, wohin sie fliegen sollen, Wale in plastikdurchsetzten, zerbohrten Ozeanen nicht mehr orten können, wohin sie schwimmen...? Auch diese zeitkritische Thematik arbeitet Scheiff mittels verschiedenster Techniken aus.

 

Viele  Werke  Scheiffs  behandeln  bedrückende   Themen;   dennoch verwahrt  sich  der  Künstler  ausdrücklich  gegen  eine  pessimistische  Lebenseinstellung.  Er  sieht  sich  vielmehr  als  teilnehmender  Beobachter,  als  Warner.  Andere  Kritiker  könnten  ihn  als  Eklektiker  abtun,  der  sich  in  den  verschiedensten Gebieten mit unterschiedlichsten  Materialien  abgibt.  Aber  liegt  nicht  gerade  in  diesem  unermüdlichen  Suchen  und  Erproben  Inhalt  und  Zweck  seiner  Kunst?  (Scheiff  sammelte  schließlich  so-gar  von  Blättern  hiesiger  Eichen  Blasen der Gallwespe, aus denen er seine Tusche schöpfte...).„Der  Weg  ist  das  Ziel“  darf  hier  wohl  als  philosophische  Erkennt-nis eingeflochten werden, da Hermann  manchmal  ja  auch  selbst  derartige Zitate in seine Gemälde einfließen lässt. Wie  dem  auch  sei,  gleich  welche  Stilart   Scheiff   denn   dabei   auch   spielen   lässt:   Immer   steht   der   Mensch  zentral,  und  die  Formgebung  entspricht  dem  Inhalt,  steht  voll im Dienst der Zielsetzung.

 

Im besten Fall wird Scheiffs Aussage zum Aufschrei. Somit geht – wenn der Funke überspringt – auch der Betrachter vollends in der Thematik auf. Dies  trifft  insbesondere  auf  vier  bereits  bestehende  Tusche-Zeichnungen  zu,  die  der  Verfasser  des  vorliegenden Aufsatzes im Jahre 1997 problemlos mit seinen beiden mehrsprachigen Zyklen “Chants devant les abîmes”  und  “Berceuses blanches” zu einem Ganzen  – Nummer 1 der Reihe obelit - neue  literaturhefte  – gestalten konnte: Hermann Scheiff war spontan zu einem gemeinsamen Aufbäumen bereit gegen die Willkür in unserer Gesellschaft, zu einer konkreten Anklage gegen die grobe Missachtung der elementarsten Rechte des Kindes, ja gegen die menschenverachtende Haltung selbst offizieller Instanzen. All diese “dysfonctionnements”  hatten  kurz  zuvor,  am  20.  Oktober  1996,  in  Brüssel  bei  der  unauslöschlichen  „Marche blanche“ rund  400.000  Menschen  aus  ganz  Belgien  in  stummem  Protest  zusammengerufen.  Als  dritte  verstärkende  Kraft fügten sich zu Text und Bild die Vertonungen der Komponistin Lucette Piron (aus Herve) von mehreren Berceuses blanches, die die deutliche Aussage dieser Texte auch musikalisch unterstreichen und weitertragen.  Scheiffs  einleitende  Zeichnung  zeigt  den  jungen  Menschen  beim  Spiel,  umgeben  von  noch  teilweise  natürlichem Pflanzenwuchs. Die zweite Phase zeigt ein Kind, scheinbar noch im Spiel, doch in Wirklichkeit bereits ein trauernder Gigolo beim Tanz... Das dritte Bild deckt die harte Wirklichkeit auf, die so viele Kinder er-leiden mussten (und noch stets müssen!) in der Gewalt von Menschenschändern und -händlern wie Dutroux, Michèle Martin und Konsorten sowie ihrer z.T. bourgeoisen Ausbeuter. Als Pendant zum ersten Tableau klagt zuletzt eine hagere Gestalt – wohl Symbol der gesamten Schöpfung – in einem vollends vereisten Umfeld mit erhobenen Armen die physische Qual und das unsägliche seelische Leid der unzähligen gepeinigten Wesen überall auf der Welt in ein weiteres ogivales Gewölbe hinein... Auch die Umschlaggestaltung von Band 1 der neuen OBELIT-Reihe stammt aus der Feder Hermann Scheiffs: Das regionale Element (der Grenzstein) tritt hier als Obelisk auf; die Titelbalken durchqueren waagerecht die Säule und weisen somit auch formal auf die lebensbedrohende kreuzigende Tragik. Jedenfalls  kommt  in  diesem  Werk  die  gemeinsame  Überzeugung  der  drei  mitwirkenden  Künstler  voll  zum  Ausdruck: „Kunst hat nur dann eine Daseinsberechtigung, wenn sie aus dem Leben erwächst und ins Leben zurückwirkt.“  Auf  die  schlussendlichen  Ergebnisse  dieser  Rückwirkungen  hat  der  Künstler  allerdings  leider  keinen Einfluss.2002 edierte Matice hrvatska, die größte Kulturvereinigung Kroatiens, in Zagreb unter dem Titel “Bijele pjes-me pred ponorima” den integralen Gedichtband neu mitsamt der Übertragungen in kroatischer Sprache (von V. Stahuljak und V. Machiedo, ISSN 1331-0992). An dieser Stelle sei der 2009 verstorbenen Schriftstellerin Visnja Stahuljak  posthum  nochmals  von  Herzen  für  ihren  Einsatz  gedankt.  In  der  ansprechend  gestalteten  Broschüre sind auch die beiden mittleren Zeichnungen von Hermann Scheiff enthalten. In den Jahren 1997-1999 haben mehrere Weiße Konzerte in Kelmis, Eupen und Brüssel bis hin nach Zagreb (1998) der gemein-samen Forderung der drei Künstler nach einer menschlicheren Gesellschaft ein hoffentlich lange anhaltendes Echo verliehen.

 

 

 

Denn  das  Recht  auf  ein  dezentes  Leben,  auf  die  freie  Entfaltung  seiner  Persönlichkeit  muss  als  Selbstverständlichkeit zum Werdegang eines jeden Kindes gehören. Der Pädagoge Scheiff war sich dessen wohl bewusst. Mehr als einmal war der Verfasser der vorliegenden Biografie Zeuge dafür, wie jedes Kind – auch das kleinste und unscheinbarste – wie ein König behandelt wurde, sobald es ins Büro des Hauptlehrers am César-Franck-Athenäum trat. Hermann Scheiff war wie ein ruhender Pol. Er wusste, ein Kind kommt nur dann zum Schulleiter, wenn es für sein Problem sonst keinen Ansprechpartner findet. Sein freundliches Entgegen-kommen brachte schnell auch die größte Scheu zum Erliegen, und schon bald konnte der Schüler den Raum getrost  und  zuversichtlich  verlassen.  Auch  die  zunehmende  Schwerhörigkeit  hinderte  den  Oberlehrer  nicht  daran, das Anliegen des Kindes zu begreifen und entsprechende Abhilfe in die Wege zu leiten. Zu Beginn des Jahres 2000 zeichnete Hermann Scheiff spontan eine brabantische Landschaft für den zweisprachigen Gedichtband “Etre poète – Dichter sein” von Maurice Carême, den der Verfasser soeben im Rahmen eines Übersetzerstipendiums der Französischen Gemeinschaft Belgiens im Château de Seneffe (Brabant) fertiggestellt hatte. Begeistert malte Scheiff für den gleichgesinnten Carême – zudem überzeugter Volksschullehrer wie er selbst – eine pastorale Landschaft, wie sie in der Umgebung von Carêmes Geburtsort Wavre heimisch war. Doch mit Gewissheit schöpft diese Landschaftsdarstellung auch aus den Kempenbildern von Maurice Boniver...

 

In den letzten Lebensjahren war Hermann durch mehrere operative Eingriffe stark geschwächt; dennoch blieb er weiter kreativ. Gezwungenermaßen ging er zuletzt widerwillig in Frühpension. Schließlich wurde er durch unglückliche Umstände bei einem Sturz in der Treppe seines Wohnhauses in Hergenrath so arg zugerichtet, dass er bald darauf, am 4. Februar 2003, im Aachener Klinikum seinen inneren Verletzungen erlag. So begann der überzeugte Grenz-Belgier sein Leben vor dem Landgraben, sozusagen unter dem Kreuz an Flög, aber er beendete es dennoch jenseits desselben, jenseits von Grenzstein 958 noch auf dem vertrauten Fußpfad, aber bereits im anderen Land... Seiner Heimführung auf dem Hergenrather Friedhof a-jen au Kérek wohnte eine ungewöhnlich große Anzahl Trauernder aus ganz Ostbelgien bei, Kulturträger, Pädagogen und Beamte, darunter auch verschiedene Gemeinschaftsminister der DG. Von seiner letzten Ruhestätte aus blickt er nun tiefer hinab ins Göhltal, das ihn werden ließ, auf die nahe Emmaburg, die ihm ganz besonders ans Herz gewachsen war.

 

Dem Wunsch seiner Familie entsprechend trug Hermanns Totenzettel nachstehenden Nachruf; davor die Abbildung eines seiner zartesten Kinderbilder, eine Kohlezeichnung, deren Ambiente unwillkürlich an die Licht-Schatten-Technik (clair-obscur) eines  Rembrandt  denken  läßt.  Was  ich  vor  neun  Jahren  schrieb,  gilt  auch  heute noch, denn so manches von dem, was wir zusammen geschaffen haben, bleibt tief eingeprägt, insbesondere unser gemeinsames Schaffen selbst.

 

Bevor Hermann Scheiff mit seinen Werken in Erscheinung trat, war die Zeichen- und Malkunst in Hauset selbst ebenso wie im Bereich der Großgemeinde Kelmis nahezu inexistent, zumindest was die Aktivität von hier Auf-gewachsenen betrifft. Durch seine Arbeiten, Ausstellungen und Kontakte, insbesondere auch durch unzählige Hinweise  und  eingehende  Beratungen,  hat  der  hiesige  Künstler  dafür  gesorgt,  dass  die  Fackel,  die  Bruder  Boniver  in  ihm  entzündet  hatte,  hier  nun  auch  weitergetragen  wird.  Mehrere  junge  ZeichnerInnen  und  MalerInnen in Hergenrath und Umgebung bilden dafür den besten Beweis. „Auf einmal seh‘ ich Rat und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“ (Faust I, Studierzimmer). Diesen Leitgedanken legte bereits Goethe zu Beginn des windungsreichen Irrlaufs der prägnanten Suchergestalt Dr. Faustus in den Mund. Nach Hermanns Wirken geht die Saat der Tat nun wahrhaftig auf...Ein rezenter Presse-Artikel bezeugt, dass Scheiffs Werk und Wirken, einmal abgesehen von unseren eigenen Bemühungen, auch bei der regionalen Bevölkerung weiterhin bekannt bleibt. Der Journalist schließt seinen Beitrag  über  die  Seniorenwerkstatt,  Kreuzstraße  Nr.  1,  in  Raeren,  wie  folgt:  „An  der  Wand  hängt  hier  ein  Großgemälde des früheren Direktors der benachbarten Gemeindeschule Plei, Hermann Scheiff, aus dem Jahr 1982 mit dem in großen Lettern aufgetragenen Motto „Gib jedem das Gefühl, für etwas gut zu sein.“ (Grenz-Echo, 03-11-2011, S. 12, An Göhl und Iter).

 

Was dieser Beitrag nicht erwähnt: Die aktiven Kräfte der Seniorenwerkstatt haben das wertvolle Ölgemälde Hermann  Scheiffs,  den  manche  unter  ihnen  noch  als  fähigen,  zuvorkommenden  Schulleiter  in  Erinnerung  tragen,  in  letzter  Minute  vor  dem  Abtransport  im  Müllcontainer  gerettet.  Wir  möchten  den  kulturbewussten  Senioren hier – auch im Namen des Künstlers – für diese Tat von Herzen danken. Dieses großflächige Werk – eine Art Synthese verschiedenster Motive und Techniken – wurde der vorliegenden Bestandsaufnahme voraufgeschickt. Das Bild sucht die unterschiedlichsten Facetten des menschlichen Lebens, vom Ackerbau über die Robotik bis hin zu Tanz und Musik, zu erfassen. Die Kinderwelt hat hier, um-rahmt von Tieren und Blumen, gleichfalls ihren Platz. Aber auch Zahlen und Buchstaben fehlen dabei in der Schöpfung des Pädagogen nicht. Doch insbesondere die Koordination des Leitmotivs mit den Bildelementen wirkt bestechend. Der bewusst in einfacher Sprache formulierte Spruch – die Kopula ist nicht zu aber für – trägt die Komposition wie zwei Flügel in die Höhe. Die oberste Taube figuriert dabei als Komma zwischen den Teilsätzen und den gleichlautenden Wörtern „Gefühl“ und „für“. Auch diese Symbiose von Text und Bild steht völlig im Dienst der humanistischen Aussage, die Hermann Scheiff nicht nur proklamierte, sondern auch konkret zu leben suchte. Scheiffs Werke befinden sich heute in zahlreichen Privatsammlungen und Museen in Europa und in Übersee. Der Nachlass wird von seinem Sohn betreut und soll nunmehr, unseren Anregungen zufolge, in Kürze gesichtet und geordnet werden. Er beabsichtigt, die Werke des Vaters in seinem Haus anzubringen und bei Gelegenheit auch der Öffentlichkeit vorzustellen. Mehrere großformatige Gemälde (Kul, Emmaburg, Hammerbrücke u.a.) wurden somit, erstmals seit des Malers Tod, am 15. März 2012 im großen Saal des Kulturzentrums „Select“ in Kelmis ausgestellt. Sie bildeten dort den Rahmen für einen sehr gut besuchten Film- und Lichtbildervortrag des Verfassers zum Thema „Neutral-Moresnet – Kelmis im Fokus europäischer Geschichte“. Obwohl für den Existenzialisten Scheiff soziale Themen zentral standen, übte er seine Feder doch immer wie-der an Objekten, Blumen, Bauwerken, Landschaften. Aus diesem Grunde reichen wir dem Künstler abschließend einen Strauß der Blumenbilder, so wie er sie uns im Lauf seiner Karriere geschenkt hat.

 

Der Verfasser dankt hiermit Charles Paulus für wichtige Hilfeleistung beim Erstellen des vorliegenden Aufsatzes, insbesondere durch Photographie- und scan-Arbeiten.  Leo Wintgens

 

Bibliographie

Leo WINTGENS – Hermann SCHEIFF, aus der presse, gedicht- und grafikband, Kelmis, 1973.

OBELIT  -  ostbelgische  literaturhefte  Nr.  1-8,  1976-1984;  in  den  Ausgaben  treten  immer  wieder  Zeichnungen  von  Hermann  Scheiff  als  Illustrationen auf.

L. WINTGENS, Grundlegung einer Literaturgeschichte Ostbelgiens, OSTBELGISCHE STUDIEN II, Eupen, 1986.1986 (mit Karten von H. Scheiff).

L. WINTGENS, Weistümer und Rechtstexte des Herzogtums Limburg, OSTBELGISCHE STUDIEN III, Eupen, 1988 (mit Karten von H. Scheiff).Panorama vom Grenzpfad aus zwischen Flög und Köpfchen:Von links: 1. B/D Grenzstein 958; Gebäude é-jen Flöösch; 2. das Kreuz an Flög; 3. Teil der Siegfriedlinie.  

N. SCHMETZ – L. WETZELS – H. SCHEIFF, Burgen und Schlösser im Göhltal, 1991.Leo WINTGENS – Lucette PIRON – Hermann SCHEIFF, Berceuses blanches – Chants devant les abîmes, OBELIT - neue literaturhefte I, Montzen, 1997.

M. CARÊME, Etre poète – Dichter sein, ins Deutsche übersetzt von L. Wintgens, D-Rimbach 2000.

L. WINTGENS, Echos aus einem europäischen Kuriosum: Neutral-Moresnet-Neutre, Helios-Verlag, Aachen, 2010 (fünfsprachig, 304 S. A4), darin mehrere Werke von Hermann Scheiff.

 

 


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